Überraschend war nicht, dass es anders kam als erwartet, sondern vielmehr dass alles nach Plan lief: Mit etwas Verspätung kamen Sajay Samuel und Samar Farage am Flughafen in Bremen an. Bereits zweimal hatte ich Sajay Samuel, Ökonom an der Pennsylvania State University, zu einem Workshop eingeladen – und zweimal war er auf dem Weg steckengeblieben. Das erste Mal kam er in Paris nicht weiter, das zweite Mal hinderte ihn ein Schneesturm an der amerikanischen Ostküste am Abflug. Und das, wo es in beiden Workshops um Risiko, Ungewissheit und (rationale) Entscheidungsfindung ging! Manchmal ist das Leben der beste Lehrmeister.
Da er uns beim Symposium „Statistical Prediction in Medicine“ (März 2015) sehr fehlte, schlug Frau Fuchs vom HWK liebenswürdigerweise vor, seinen Besuch nachzuholen. So hatte ich die wunderbare Gelegenheit, am 3. Juni einen scientific retreat zum Thema „Tenseless decisions“, also der Zeitlosigkeit von Risikovorhersagen für die rationale bzw. informierte Entscheidungsfindung durchzuführen. Im Entscheidungsbaum – das Modell bzw. die Orientierungshilfe für rationale Entscheidungen – fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Samuel führte diese graphische Verräumlichung von Zeit und Wissens auf die Ramistische Logik (Peter Ramus 1515-1572) zurück und argumentierte, dass das im heutigen Entscheidungsverständnis zwar das Abwägen von Risiken zentral ist, aber die Axiomata der Entscheidungstheorie ausdrücklich von jedem Zeitbezug absehen. Ein Paradox? Das „decision making“ der Entscheidungstheorie, so schloss Samuel, setzt Subjekte voraus, die einer zentralen Dimension der menschlichen Erfahrung beraubt sind: Der Zeitlichkeit.
Neben Sajay Samuel hatte auch die Politikwissenschaftlerin S.M. Amadae, derzeit University of Helsinki, einen ausführlichen Vortrag vorbereitet: Sie fragte nach der Herkunft und den Eigenschaften des modernen „Entscheiders“, also des neoliberalen Subjekts, das losgelöst von sozialen und kulturellen Bindungen präferenzgesteuerte und strategische Entscheidungen im rationalen Eigeninteresse trifft. Angesichts des nuklearen Wettrüstens während des kalten Krieges setzte sich in den militärischen und politischen Think Tanks ein spieltheoretisches Rationalitätsverständnis durch, das auf Berechenbarkeit, Eigeninteresse und der Aufgabe ethischer Prinzipien beruht. Das „Prisoners Dilemma“ ist Inbegriff dieses Rationalitätsverständnisses und setzte sich nach dem Kalten Krieg in den Sozialwissenschaften und in der Politik als Handlungstheorie durch. Dieses Rationalitätsverständnis, so Amadae, bestimmt und leitet die heutige neoliberaler Politik und unterscheidet diese grundlegend vom herkömmlichen Liberalismus, der u.a. das Allgemeinwohl sowie das Prinzip der Schadensvermeidung im Auge hatte. Angesichts des Abbaus des Sozialstaats, der zunehmenden Privatisierung von Risiken und des neuen nuklearen Wettrüstens ist Amadaes Analyse von beklemmender Aktualität.
Unsere Diskussionen setzten wir abends am gastlichen Tisch bei Barbara Duden in Bremen fort. Das Thema wird uns weiterhin nicht loslassen, und wir danken dem Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst, das es uns einen so spannende und bereichernde Workshop ermöglicht hat.
(TeilnehmerInnen, siehe Foto v.l.n.r: Kirsten Vogeler, Beate Zimmermann, Silja Samerski, Sajay Samuel, Samar Farage, Tollef Graff Hugo, Katrin Amelang, Sonja Amadae, Barbara Duden)