TeilnehmerInnen am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst (v.l.n.r.), hinten: Barbara Kosfeld, David Armstrong, Beate Zimmermann, Barbara Duden, Norbert Donner-Banzhoff, Hans Vogt, William R. Arney, Susanne Osterkamp, Katja Baumgarten, Judith Simon; vorne: Jörn Esch, Matthias Rieger, Silja Samerski, Kirsten Vogeler
Auf meine Einladung hin haben sich vom 5.-7. März am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst siebzehn Theoretiker und Praktiker des Gesundheitssystems aus verschiedenen Fachrichtungen getroffen, um über die Veränderung von Zeitlichkeit, Individualität und medizinischer Entscheidungsfindung durch statistische Vorhersagetechniken zu diskutieren, und zwar unter dem Titel: „Statistical Prediction and Decision Making. How Scientific Techniques of Anticipation Transform Deliberation and Choice – the Medicinal Field“ (Abstract/Programm).
Die Zeiten sind vorbei, in denen der Arzt das Gespräch mit der Frage „Was fehlt ihnen?“ einläutete, seinen Patienten körperlich untersuchte, eine Diagnose stellte und, de lege artis, eine ensprechende Behandlung verschrieb. Die Trias „Diagnose, Prognose, Therapie“ wird heute durch die Trias „Risikoberechnung – Risikoattest – Risikomanagement“ abgelöst. Die Begegnung zwischen Arzt und Patient sieht dann ungefähr folgendermaßen aus: Frau S. läßt wegen ihrer häufigen Kopfschmerzen einen Gesundheitscheck machen. Die Ärztin sitzt während des Gesprächs vor dem Bildschirm und füttert ein Computerprogramm mit Daten – Alter, Blutwerte, Krankheiten in der Familie, Lebensgewohnheiten etc. Das Programm kalkuliert anhand der Daten verschiedene Erkrankungswahrscheinlichkeiten. Als das Ergebnis vorliegt, erklärt die Ärztin Frau S., dass sie zwar nicht weiß, woher ihre Kopfschmerzen kommen, aber dass sie ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen und für Darmkrebs festgestellt hat. Das wäre erstmal nur Statistik, beruhigt si , um Frau S. im nächsten Satz zu ernahmen: Da müsse sie schon aufpassen! Mit Hilfe des Programms führt die Ärztin auf, wie sich die Risiken reduzieren ließen: Durch durch regelmäßigen Checkups um 12%, durch regelmäßigem Sport und Rauchentwöhnung etwa um 20%, durch die Einnahme von Cholesterinsenkern um 8% – allerdings würde sie Damit das Risiko von Nebenwirkungen eingehen … Eine Empfehlung könne sie ihr nicht geben, stellt die Ärztin klar, sie könne nur informieren. Frau S. müsse selbst entscheiden, welche Risiken sie eingehen möchte und welche nicht.
Noch bis ins 19. Jahrhundert hätte eine solche Entscheidung, wie sie die Ärztin von Frau S. fordert, als Würfelwurf gegolten, als reines Glückspiel. Schließlich beziffern Wahrscheinlichkeiten per definitionem Häufigkeiten in Grundgesamtheiten, aber sagen nichts über den Einzelfall. Heute dagegen gilt die Wahl zwischen risikobehafteten Optionen als Inbegriff der rationalen, informierten Entscheidung. Immer mehr Ärzte verwenden in ihrer Praxis Risikokalkulatoren beispielsweise für Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen, und immer häufiger laufen Arzt-Patientengespräche ganz ähnlich wie oben geschildert ab. Schaffen Computerprogramme in Zukunft die Ärzte ab? Ist es möglich, auf der Grundlage von Statistiken und Wahrscheinlichkeitsberechnungen persönliche Entscheidungen zu treffen? Ist statistische Information überhaupt „Wissen“ im herkömmlichen Sinne? Gehen das Erfahrungswissen und das situative Wissen, auf dem die Heilkunst und die Hebammenkunst einst gründeten, verloren? Was heißt „Gesundheit“, wenn big data in Zukunft mit jeder Lebensgewohnheit oder körperlichen Eigenart eine Krankheitswahrscheinlichkeit verknüpft, die Ärzte – oder Computerprogramme Patienten als beunruhigende Risiken zuschreiben?
Auf dem dreitägigen Symposium am Hanse-Wissenschaftskolleg sind Hebammen, Philosophen, Mathematiker, Ärzte und Soziologen über diese Fragen in ein offenes und intensives Gespräch gekommen. Wir waren uns einig, dass sich die Medizin durch die Dominanz der Statistik sowie statistischer Vorhersagen tiefgreifend verändert. Der individuelle Patient wird heute zunehmend in einen statistischen Fall umgedeutet, der von Populationen abgeleitet wird. Nur angerissen haben wir die grundlegende Frage, ob die induktive Statistik es überhaupt erlaubt, zeitliche Vorhersagen zu machen, oder ob Zeitlichkeit hier nicht prinzipiell ausgeblendet wird. Recht hitzig diskutiert wurde dagegen die These, dass statistische Information etwas anderes ist als „Wissen“ im herkömmlichen Sinne: Was wissen eine Ärztin oder eine Patientin, wenn sie ein probabilistisches Erkrankungsrisiko oder einen statistischen Therapienutzen kennen? Geht beispielsweise das kundige Wissen der Hebamme, die mit erfahrenen Händen und Augen die Gebärende untersucht und sich, de lege artis, ein Urteil bildet, durch statistisch begründete Leitlinien verloren?
Die Kunst des Nachdenkens besteht weniger darin, eindeutige Antworten zu finden, als darin, gute Fragen zu stellen. Insofern war das Symposium ein äußerst fruchtbares, inspirierendes und ergebnisreiches Zusammentreffen.