Wer zum Arzt geht, sucht Hilfe. Der Arzt – so die berechtigte Annahme – versteht es als seine Aufgabe, sich um die Gesundheit der hilfesuchenden Patienten zu kümmern. Aber: Stimmt das heute überhaupt noch?
Viel Kritik gibt es an der sogenannten „Ökonomisierung der Medizin“, weil der wirtschaftliche Druck Ärzte dazu verleitet, die ökonomische Bilanz statt das Wohlergehen ihrer Patienten in Blick zu haben. Insbesondere in Krankenhäusern, die nach Fallpauschalen abrechnen, kommt es immer häufiger vor, dass Ärzte ihren Patienten unnötige oder gar schädliche Behandlungen verpassen. Aber neben der Ökonomisierung gibt es noch eine andere Entwicklung, die dazu führt, dass Ärzte ihre Patienten aus dem Blick verlieren: Die wahrnehmungsprägende Macht der Statistik. Noch vor wenigen Jahrzehnten dienten Statistiken dazu, medizinische Erfahrungen und Erkenntnisse zu untermauern oder zu illustrieren. Heute jedoch gilt nur noch das als medizinisches Wissen, was als statistisch signifikant getestet wurde. Fraglos – die evidenzbasierte Medizin leistet wichtige Dienste, wenn sie zeigt, dass das bevölkerungsweite Mammographiescreening nicht leistet, was es verspricht, oder dass bei chronischen Rückenschmerzen Operationen meist unnötig sind. Aber was passiert, wenn nur noch statistische Korrelationen als medizinisches Wissen anerkannt werden? Statistiken sagen nie etwas über konkrete Menschen aus, sondern immer nur etwas über Kohorten. Wenn sich Ärzte zunehmend nach Statistiken und Risikozahlen richten, dann behandeln sie ihre Patienten folglich nicht mehr als Menschen aus Fleisch und Blut, sondern als Datenprofile. Auf einer Ärztetagung mahnte ein Arzt daher seine Kollegen, dass die Ärzteschaft „auf dem Sprung“ wäre, die „Graphiken zu behandeln, aber nicht die Menschen“.
Wer mehr zu diesem Thema lesen möchte: Silja Samerski, „Die gesichtslose Patientin“, Oya 24, Januar/Februar 2012, S. 72-75.