Wohin führt uns die Nationale Kohorte?

„Gesundheitsstudien – was habe ich davon?“ – unter diesem Titel lud das Haus der Wissenschaft in Braunschweig zur Diskussion über die „NaKo Gesundheitsstudie“ ein. Verschiedene Forschungseinrichtungen in Deutschland haben sich zusammengetan, um eine große Menge an Gesundheitsdaten zu sammeln:  200.000 zufällig ausgewählte Bürger werden ausführlich untersucht sowie detailliert zu ihrer Gesundheit und  ihrem Lebensstil befragt – und das alle paar Jahre wieder.  Außerdem werden ihnen Bioproben entnommen und in einer Art Biobank für genetische und molekularbiologische Forschungsvorhaben gesammelt. Ziel dieser riesigen Datensammlung ist es, „Ursachen von Volkskrankheiten wie z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Demenzerkrankungen und Infektionskrankheiten aufzuklären, Risikofaktoren zu erkennen und Wege einer wirksamen Vorbeugung aufzuzeigen“ (NaKo).

Klingt ja erstmal hilfreich – wer will nicht gesund bleiben?  Für die Diskussion war ich ausdrücklich als Kritikerin dieses Großprojektes eingeladen worden, und saß schließlich zwischen zwei Medizinern auf dem Podium, die die Nationale Kohorte kräftig befürworteten. Gérard Krause, selbst an der Nako beteiligt, beschrieb das Vorhaben interessanterweise ohne Zögern als Big-Data-Projekt – eine Einordnung, gegen die sich einige seiner Kollegen vehement wehren. Auf meine Nachfrage hin räumte er ein, dass der Weg zur versprochenen Erforschung von „Ursachen“ äußerst weit ist – eigentlich jenseits des derzeitigen Horizontes. Ich argumentierte, dass die NaKo vor allem Korrelationen liefern wird, also statistische Assoziationen zwischen genetischen Markern, Lebenstilen und Erkrankungen. Gerade in Zeit von Big Data, in denen große Datenmengen mit Hilfe des Computers auf Muster und komplexe Zusammenhänge hin untersucht werden, erhält die Forschung ausschließlich komplexe Korrelationen. Ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist da noch lange nicht in Sicht. „Rotes Fleisch erzeugt Krebs“, „Brokkoli verringert das Krebsrisiko“ – das sind die Schlagzeilen, die abstrakte statistische Wahrscheinlichkeiten in scheinbar konkreten Bedrohungsszenarien und Handlungsanweisungen umdeuten. Auch in der Arztpraxis gerinnen solche Wahrscheinlichkeiten schnell zu vermeintlich „persönliche Risiken“. Ein Arzt attestiert seiner Patientin ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs, Down-Syndrom oder Depression, und macht sie für das Management dieses Risikos verantwortlich. Um das Risiko zu reduzieren, soll sie ihre Ernährung ändern, sich regelmäßig  Checkups unterziehen und manchnal sogar vorsorgliches Pillen schlucken. Und das, obwohl Statistiken gar nichts über einen Menschen aus Fleisch und Blut aussagen können – eine Wahrscheinlichkeit beziffert lediglich die Häufigkeiten in Populationen. Immerhin, entgegnete Herr Krause, könnten die Ergebnisse der NaKo  einige dieser aufgebauschten Risiken als irreführend entlarven. Dieses Ziel der NaKo war mir neu: Ein hochbezahltes Forschungsprojekt, um die Bevölkerung von (populär-)wissenschaftlich geschürten Risikoängsten zu befreien?

Das Podiumsgespräch war erfrischend kontrovers, und Herr Pantazis, Politiker und Mediziner, gab schließlich zu, dass ihm einige der kritischen Dimensionen der NaKo-Gesundheitsstudie nicht bewußt gewesen waren. Auch ein Journalist der Braunschweiger Zeitung hatte über die Kluft zwischen Daten und leibhaftigen Menschen, zwischen Risikokalkulationen und eigener Biographie so noch nicht nachgedacht und betitelte seinen Bericht mit der Frage „Ungesunde Gesundheitsdaten?“. Darin unterschied er jedoch kleine Beobachtungsstudien, die „blödsinnige“ Risikofaktoren produzieren würden, von der „seriösen“ NaKo, die – Zitat Gérard Krause – Risikofaktoren nicht „produziert“, sondern „entdeckt“. Prof. Krause hatte die NaKo schließlich mit der Feststellung verteidigt, dass es doch besser sei, die Menschen würden sich nicht vor falschen, sondern vor „echten“ Risiken fürchten.

Diese Unterscheidung zwischen „echten“ und „falschen, zwischen „entdeckten“ und „produzierten“ Risikofaktoren ist jedoch irreführend. Ein statistisches Risiko ist keine konkrete Realität, die sich wie ein unbekannter Regenwaldkäfer oder ein neuer biochemischer Wirkstoff einfach „entdecken“ ließe. Ein Risiko ist eine bestimmte Form der Objektivierung möglicher Ereignisse. Risiken an sich gibt es also nicht. Was umgekehrt heißt, dass alles zum Risiko werden kann – das rote Fleisch, das abendliche Viertelesschlotzen (wie man im Schwäbischen sagt), das auf dem Bauch liegende Baby, der Sportmuffel, die „Schweinegrippe“ oder das Kinderkriegen ab 35. Die zentrale Frage ist also, was wir über uns selbst und unsere Gesundheit wissen, wenn Epidemiologen Korrelationen und Risikofaktoren feststellen. Fraglos erfahren wir dabei etwas über Kohorten und Populationen, also über die statistischen Charakteristika großer Menschengruppen. Für die Bekämpfung beispielsweise von multiresistanten Keimen in Krankenhäsuern, von Feinstaubbelastungen in Städten oder für die Evaluation medizinischer Maßnahmen sind solche Studien unerläßlich. Darüber, ob ich oder meine Tochter in Zukunft krank werden oder nicht, und was mir gut tut und sie gesund erhält, darüber erfahre ich in solchen Studien allerdings nichts – ganz gleich, ob diese meine Vorliebe für Bratwürstchen oder meine genetische Mutation X53 zum Risikofaktor erklären. Stattdessen lauf ich Gefahr, mir mein Wohlbefinden von allerlei abstrakten Bedrohungszenarien rauben zu lassen – Bedrohungen, die nicht Hand und Fuß haben, und die sich vielleicht schon nach der nächsten Gesundheitsstudie mit neuen Daten und anderen statistischen Verfahren als Hirngespinste erweisen.

Wenn es tatsächlich darum gehen soll, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern, gäbe es sehr handfeste Angriffspunkte: Die Umweltvergiftung reduzieren, den Straßenverkehr eindämmen, Arbeitslosigkeit und Armut bekämpfen, den Antibiotikaverbrauch drastisch regulieren. Noch mehr Risikofaktoren, die mir „Risikobewußtsein“ einimpfen sollen, mir Angst vor meinem Inneren und meiner Zukunft machen und mir die Verantwortung für meine Gesundheit aufbürden, die brauchen wir jedoch nicht.

(für eine weitere Diskussion über die NaKo und Big Data in der Medizin siehe „Voraussagende Medikalisierung“ und meinen Beitrag „Vorausberechnen statt verstehen“ im GID, hier auch als pdf)