Digitale Epidemiologie – die Einübung eines „planetarischen Blicks“

„Digitale Empidemiologie – ethische, rechtliche und soziale Aspekte“ (DELSI) – so hieß eine Tagung des Robert-Koch-Instituts (RKI), die mitte September in Berlin stattfand. Ich war als Referentin eingeladen, und fand mich an einem regnerischen Montagnachmittag in einer herrlichen Villa direkt am Wannsee inmitten von Epidemiologen, Modellierern, Medizinern, Gesundheitswissenschaftlern und Gesundheitsexperten der WHO aus den verschiedensten Ländern wieder. Fünf Tage lang haben wir zusammen gesessen und diskutiert, über Datenschutz, die Aussagekraft von Computersimulationen, die „Versicherheitlichung“ (securization) der globalen Gesundheitspolitik, die Wirkungslosigkeit oder gar Kontraproduktivität westlicher Institutionen während der Ebola-Krise in Westafrika und vieles mehr. Da die gut zwei Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur von Universitäten kamen, sondern auch aus der Praxis, also nicht nur über diese Themen sprechen, sondern von ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen berichten konnten, war die Tagung für mich ungewöhnlich informativ und spannend.

Digitale Epidemiologie – was ist das überhaupt? Eine der Hauptaufgabe des RKI bestet darin, den Ausbruch von Infektionskrankheiten zu überwachen und zu verhindern. Herkömmlicherweise fußt diese Überwachung auf einem geregelten Meldesystem: Ärzte (oder Labore) diagnostizieren eine meldepflichtige Erkrankung wie Masern oder EHEC, melden sie dem örtlichen Gesundheitsamt, und dieses leitet die anonymisierten Daten an das RKI weiter. Das RKI erfährt also nachträglich, was passiert ist; bis es sich ein Bild von der Lage machen kann, können einige Tage vergehen. Manchmal ist die Infektion sogar schon wieder am abklingen, bevor das RKI über den Höchststand informiert ist – so z.B. im Falle von EHEC. Digitalisierung und Big Data machen es jedoch möglich, neuartige Überwachungssysteme einzusetzen, die einen Zeitsprung machen sollen: Ihr Ziel ist es, die Gegenwart und die Zukunft zu erfassen – „Nowcasting“ und „Forecasting“, wie es heißt. Wie kann das gehen? Wie ist es möglich, die Zeitdauer auszuschalten? Ähnlich wie bei der Wettervorhersage rechnen diese Überwachungssysteme mithilfe mathematischer Modelle anhand verschiedenster Datenquellen aktuelle und zukünftige Trends hoch. Dafür gilt: „Alle Daten sind relevant“. Die Wettervorhersagen sind in den letzten Jahren unter anderem deshalb besser geworden, weil es weltweit so viele Meßstationen und Wetterdaten gibt – und weil die Modelle quasi täglich geprüft und verbessert werden können. In Bezug auf EHEC, Ebola oder MERS gibt es diese Gelegenheit, täglich nachzubessern, natürlich nicht. Aber auch hier soll’s die Datenmenge richten: Die Nutzung verschiedenster Datenquellen,  Tweets, Facebook-Daten, „Click-streams“ aus Internet-Anfragen (wie bei Google Flu Trends), Nachrichten, Zahlen über abwesende Schüler, Apothekenverkäufe etc., soll es ermöglichen, die Zeit zu überspringen. Für die Ausbruchs-Früherkennung suchen Computerprogramme in der Datenflut nach Signalen, also nach ungewöhnlichen Mustern (z.B. Häufung von Internet Anfragen oder tweets zu „Kopfschmerzen, Fieber und Grippemittel“) und erstellen entsprechende Vorhersagen. Neben den Daten sind natürlich die Modelle bzw. Algorithmen entscheidend, auf denen die Simulationen fußen. Physiker und Mathematiker sind damit beschäftigt, mithilfe von verschiedensten Daten sowie mithilfe experimenteller Forschung über Mobilität und Sozialkontakte solche Modelle zu programmieren. Das Ergebnis sind dann u.a. eindrückliche Computersimulationen, bei denen die Betrachterin quasi vom Weltall aus den Globus überschaut und die Ausbreitung einer Grippewelle in buntleuchtenden Farben verfolgt (siehe die Projektgruppe am RKI und die Beschreibung der Simulationsmodelle in einen Spiegel-Artikel). Während der H1N1-Pandemie („Schweinegrippe“) haben solche Modelle bereits eine wichtige Rolle bei gesundheitspolitischen Entscheidungen gespielt (siehe u.a. „Modelling During an Emergency„…).

Was bedeutet es, die Zeitdauer überspringen zu wollen? Wozu dienen die Vorhersagen und Computersimulationen? Die Politik erwartet, so faßte es Niamh Stephenson, Soziologin aus Sydney, aufgrund ihrer empirischen Forschung zusammen, dass die Modellierer das Unberechenbare berechenbar machen. Die Systeme haben also vor allem eine soziale und politische Funktion. Niamh spricht daher von einer „technology that enables a mode of governing that refuses the uncalculable“.  Diese Aufgabe, das Unkalkulierbare kalkulierbar zu machen, ist natürlich paradox. Bereits die Schweinegrippe hat sich, wie Niamh berichtet, in Australien nicht an die modellierten Vorhersagen gehalten. Die Modellierer selbst sind sowieso am nüchternsten, was die Aussagekraft ihrer Simulationen angeht: In Interviews stellen sie klar, dass sie mit ihren Modellen Übertragungsmustern auf die Spur kommen wollen, aber keine wirklichen Vorhersagen machen können.

Wenn man sich nicht von kompizierten Graphiken und bunten Simulationen beeindrucken läßt, sind die aufwendig gewonnenen Erkenntnisse manchmal auch ziemlich banal – für die Voraussicht, dass Ebola auch auf Nachbarländer übergreifen kann oder große internationale Flughäfen Drehscheiben für ansteckende Krankheiten werden können, braucht es keine ausgefeilten Computersimulationen. Diese Diskrepanz zwischen  dem, was nachher jemand tatsächlich wissen und tun kann, und den hochtechnisierten und hochprofessionalisierten Überwachungs- und Interventionssystemen hat mich auf der Tagung ohnehin  am meisten beeindruckt. Eine der größten infektiösen Bedrohungen in Europa sind laut Mike Catchpole, dem Leiter des Europäischen Zentrums für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten (ECDC), nicht neue Viren oder Bioterrorismus, sondern multiresistente Keime. Wenn ich zu diesem Thema recherchiere, dann gilt als eine zentrale Ursache für diese Bedrohung ganz schlicht der massenhafte und unsinnige Verbrauch von Antibiotika. Es liegt auf der Hand, was hier zu tun wäre – das, was wirklich helfen würden, nämlich den Antibiotikaverbrauch massiv einzuschränken, das ist jedoch politisch und ökonomisch offensichtlich nicht durchsetzbar. Eine ähnliche Kluft zwischen wirksamen Mitteln und aufwändiger Technologie bestand offenbar bei der Bekämpfung von Ebola in Westafrika: Viele westliche Länder entsandten Experten und teure Technologien und provozierten damit vor allem den Widerstand und das Mißtrauen der Bevölkerung. Epidemiologen äußern rückblickend Zweifel, ob ihre Präsenz vorort überhaupt einen Nutzen hatte. Liberia war das Land, in dem die Ansteckungszahlen am schnellsten wieder sanken – und es war dasjenige Land, das sich die Krankheit am meisten zu eigen machte; dort wurden z.B. – entgegen der WHO-Vorgaben – leicht handhabbare diagnostische Schnelltests durchgeführt und home-kits verteilt, damit Familien ihre Kranken zuhause pflegen konnten.

Wenn das Ziel Gesundheit ist, dann stellt sich ganz offensichtlich die Frage: Wozu der teure Wissenschaftsbetrieb und das Streben nach immer ausgefeilteren Systemen für die globale Überwachung? Oder geht es vielleicht gar nicht um Gesundheit, sondern um etwas anderes? Der Politikwissenschaftler Stefan Elbe von der Sussex University kommentierte die Entwicklung immer neuer Überwachungssysteme, die teilweise nie eingesetzt werden, weil sie nicht funktionieren, mit den Worten: „We are selling dreams here“. Was sind das jedoch für Träume, und welche Auswirkungen haben sie auf unseren Alltag und unsere Selbstwahrnehmung? Ein Teilnehmer stellte bereits die Frage, ob die öffentliche Gesundheitsfürsorge nicht bald von allen Bürgern verlangen könnte, ein Smartphone zu nutzen – damit alle als Datenerzeuger und Informations-Adressaten am großen Überwachungs- und Steuerungssystem hängen.

Ivan Illich hat nicht nur gefragt, was Technologien tun, sondern auch, was sie sagen. Was ist ihre symbolische Wirkmacht? Mir scheint es sehr wichtig, nicht nur nach der Vorhersagekraft oder Nützlichkeit der globalen Überwachungssysteme zu fragen, sondern auch nach dem, was sie uns nahelegen, suggerieren, glauben machen. Welche Denk- und Wahrnehmungsweisen bahnen  sie an? Epistemologisch katapultieren uns die neuen Simulations-Technologien geradezu ins Weltall; sie fordern uns auf, eine  „Astronauten-Perspektive“ bzw. einen „planetarischen Blick“ (Wolfgang Sachs) einzunehmen, durch den die Erde zu einem Management-Objekt verkommt. Donna Haraway spricht hier vom „God-trick of seeing everything from nowhere“. Die conditio humana, so Hannah Arendt, ist jedoch unvermeidlich leibgebunden, zeitlich und „terrestrisch“ (siehe „The Conquest of Space and the Stature of Man„). Alles, was für uns – und auch in Sachen Gesundheit – bedeutsam ist, verschwindet daher aus der Astronauten-Perspektive: Menschen, Geschichten, Schicksale, Orte und Zeiten. Zeitlichkeit, so einer der Modellierer, kennen die Programme und Modelle sowieso nicht. Was passiert also, wenn die digitale Epidemiologie dazu auffordert, persönliche und politische Entscheidungen auf solchen abstrakten Informationen zu gründen? Macht sie uns glauben, dass „globale Gesundheit“ eine Frage technischer Überwachung ist? Verkommt Gesundheitspolitik zum technokratischen Management wissenschaftlicher Konstrukte?

Ich habe mich sehr gefreut, auf der DELSI-Tagung, vor allem bei  Tischgesprächen, ein bißchen hinter die Kulissen schauen  und neue Fragen an die Träume von „global health“ und „security“ stellen zu können.